Sihem Ben Sedrine gehörte schon unter Ben Ali zu den schärfsten Kritikern des autoritären Regimes. Heute genießt sie die neu gewonnene Freiheit und leitet den Nationalrat der Freiheiten, eine angesehene Menschenrechtsorganisation. Sie setzt große Hoffnungen in die Wahlen dieses Wochenende, doch gleichzeitig fürchtet sie den immer noch spürbaren Einfluss der Männer des gestürzten Regimes.
ARTE Journal, Barbara Lohr: Aus europäischer Sicht wird die Wahl in den letzten Tagen oft als die befürchtete Auseinandersetzung zwischen Islamisten und Modernen präsentiert. Geht es bei dieser Wahl wirklich um diesen Gegensatz?
Sihem Ben Sedrine: Das sind Klischees, die auf unsere Wirklichkeit projeziert werden. Anscheinend haben die Europäer nur dieses eine Interpretationsmuster. Meine europäischen Freunde fragen mich nach nichts anderem, weil es für sie nichts anderes gibt. Die Wirklichkeit ist aber viel komplexer.
Es stimmt zwar, dass der Islamismus zu unserer politischen Landschaft gehört und nicht vernachlässigt werden sollte; aber meiner Meinung nach liegt sein Gewicht nur bei 20 bis 22 Prozent der Stimmen. Der Rest hat mit Islamismus nichts zu tun. Er lässt sich aber auch nicht auf Anti-Islamismus reduzieren. Natürlich gibt es auch anti-islamistische Gruppen, aber es gibt auch Kräfte, die völlig außerhalb dieser Logik stehen. Die wirklichen Scheidethemen lauten nämlich: Welche Reformen wollen wir durchführen, welche Interessen bedienen wir, wo kommen wir her, und wo wollen wir hin? Es gibt ganz andere Gegensätze als den zwischen Islamisten und Laizisten, dieser letztere ist nicht der wesentliche.
Geheimdienste verbreiten Gerüchte
Mich beunruhigt eher eine andere Frage: die der Wahlbeteiligung. Die Politiker des früheren Regimes üben nämlich enormen Druck aus, und zwar mit Unterstützung der Muschabarat, der Geheimdienste. Die verbreiten massiv Gerüchte, die sagen, man solle am 23. lieber zu Hause bleiben, es werde gewaltsame Zusammenstöße geben, man solle besser Vorräte für mindestens eine Woche anlegen, weil die Geschäfte geschlossen sein werden. Das ist natürlich alles erlogen, aber leider glauben manche Leute daran und haben mit Hamsterkäufen angefangen. Deshalb gibt es Engpässe bei Grundnahrungsmitteln wie Wasser, Milch und Grieß. Das heißt, es gibt eine gewisse Panik. Aber ich hoffe, dass sie nicht zu groß wird und trotzdem genug Leute wählen gehen, denn eine schwache Wahlbeteiligung wäre ein Misserfolg. Das macht mir schon eher Sorgen, und dafür sind nicht die Islamisten verantwortlich, sondern die Politiker des früheren Regimes.
ARTE Journal: Muss man fürchten, dass diese Restgruppen des früheren Regimes auch bei den Wahlen Erfolg haben könnten?
Sihem Ben Sedrine: Meiner Meinung nach werden sie in der verfassunggebenden Versammlung vertreten sein. Sie haben neue Gesichter gefunden, und sie verfügen über einen gut geölten politischen Apparat, der über Jahrzehnte funktioniert hat. Sie wissen, wie man den öffentlichen Raum besetzt, im Gegenteil zu den anderen, den neuen, die nichts von politischer Kommunikation verstehen und nicht wissen, wie sie ihr Programm an den Mann bringen können. Sie sind unbekannt, sie sind echte Neulinge, die keine politische Erfahrung haben. Die Politiker von gestern haben diese Erfahrung, und das wird sich in einigen Sitzen in der verfassunggebenden Versammlung niederschlagen. Davon bin ich überzeugt, und deshalb ist auch der Gegensatz zwischen Islamisten und Laizisten ein falsches Problem, der eigentliche Gegensatz ist der zwischen früherem und neuem Regime.
Versuche, Gewalt anzuzetteln
Am meisten Sorge machen mir die Destabilisierungsversuche der Geheimdienste. Die sind sehr aktiv und versuchen überall Gewalt anzuzetteln, mal zwischen verschiedenen Stammesgruppen, mal gegen die Polizei, dann wieder gegen die Frauen oder Minderheiten. All diese Destabilisierungsmanöver sollen beweisen, dass das die Übergangsregierung unfähig ist, die Sicherheit zu garantieren, die Minderheiten im Land zu schützen, und dass nur ein starker Mann wie Ben Ali das Land führen kann, was völlig falsch ist. Wenn die Freiheit bei uns jemandem Angst macht, dann ihnen, den Leuten vom früheren Regime.
Das Interview führte Barbara Lohr